Von Andrea Wolter und Ann-Christin Quatmann
Sommer 1976: Sarah ist kaum einen Tag alt, als ihre neuen Eltern sie im Krankenhaus besuchen. Sie ist zu klein, um zu verstehen, dass ihre leibliche Mutter sie nicht behalten kann. Sarah ist eins von rund 3000 Kindern, die in Deutschland jährlich zur Adoption freigegeben werden.
Die Mütter entscheiden sich aus den verschiedensten Gründen für eine Adoption. In unserem Falle ist die Mutter Ausländerin und kann nicht in Deutschland bleiben, ohne einen Beruf auszuüben - mit Sarah wäre ihr das nicht möglich. Deshalb lässt sie sich bei der Hilfsorganisation des SKF (Sozialdienst katholischer Frauen) beraten und spricht mit dem Jugendamt. Dort wird sie über Alternativen - wie Kinderkrippe oder Kinderhort - informiert. Doch Sarahs Mutter hat sich bereits für die Adoption entschieden und erledigt nun ihre letzte Handlung in ihrer Mutterfunktion: Sie geht zu einem Notar und unterschreibt ihre Einwilligung zur Adoption.
Ist diese Genehmigung gegeben, beginnt das Jugendamt mit der Suche nach einem geeigneten Paar aus der großen Bewerberschar (im Schnitt etwa 15 bis 20 bei jedem Kind). Ein Paar wird dann ausgewählt und erhält Informationen über das Kind und seine Umgebung - und bereitet sich auf die Aufnahme vor.
Für die Interessenten ist es gar nicht so einfach, in die engere Wahl zu kommen, denn es gibt ein ausführliches Überprüfungsverfahren. So werden beispielsweise Lebensberichte, Gesundheitszeugnisse sowie Einkommensnachweise angefordert. Es wird auch auf Vorstrafen geachtet, insbesondere in Verbindung mit Kindern. Zudem werden lange, persönliche Gespräche mit der adoptierenden Familie geführt.
Sobald dieser Vorgang abgeschlossen ist, wird die kleine Sarah nach der ersten (und letzten) Woche mit ihrer Mutter der neuen Familie übergeben - dem Ehepaar Walter und Elisabeth Schütte aus Wildeshausen im Landkreis Oldenburg. Doch zunächst kommt Sarah lediglich zur Pflege in die Familie, bis das Verfahren auch bei dem Vormundschaftsgericht endgültig abgeschlossen ist.
Die leibliche Mutter hat noch eine Frist von acht Wochen, in der sie die Adoption rückgängig machen kann. Wenn die abgelaufen ist, wird Sarah wie ein normales leibliches Kind in der Familie Schütte behandelt. Selbst die Geburtsurkunde wird geändert; lediglich die Abstammungsurkunde deutet auf die wahre Herkunft hin. Sarahs Eltern haben aus dieser Vorgeschichte von Anfang an kein Geheimnis gemacht. Schon von klein auf wird dem Kind nie vorenthalten, dass es "bei einer anderen Mutter im Bauch war". "Auch wenn ich dich nicht zur Welt gebracht habe, bist du etwas ganz Besonderes, da wir dich ausgesucht haben", sagt Elisabeth Schütte.
Um das für Sarah noch verständlicher zu machen, schlägt der SKF der Familie vor, Kinderbücher zu kaufen, die diese besondere Situation anhand von Geschichten dem Kind anschaulich machen. Doch trotz der Adoption sieht sie das Ehepaar Schütte immer als ihre wahren Eltern an.
Frühjahr 1996: Mit der Zeit ist es für Sarah immer drängender geworden, zu erfahren: "Geht's meiner leiblichen Mutter gut?" So nimmt die 20-Jährige Kontakt zur SKF-Beauftragten auf, die sie früher selbst vermittelt hatte. Da es eine Inkognito-Adoption war, kennen die adoptierenden Eltern die Daten der leiblichen Mutter. Aber diese hat keine Informationen über ihr Kind bekommen, damit es ungestört aufwachsen kann. So ist es für Sarah möglich, nach ihrer Mutter zu suchen. Die Suche bleibt erfolglos; vermutet wird, dass sie zurück in ihre Heimat gegangen ist.
An der Geschichte von Sarah können wir sehen, dass auch ein künstlich geschaffenes, dauerhaftes und rechtswirksames Eltern-Kind-Verhältnis zwischen Nichtblutsverwandten durchaus funktionieren kann. Allerdings ist das nicht immer der Fall: Tom, der 1980 mit dreieinhalb Jahren in die Familie Schütte kam, hat heute keinen Kontakt mehr zu seiner Adoptivfamilie - ebenso wenig wie zu Sarah. Tom kam seinerzeit aus einer Problemfamilie zu den Schüttes. Die Erfahrungen, die er als kleiner Junge in seiner leiblichen Familie durchleben musste, prägen bis heute seine Persönlichkeit.
(Quelle: Gespräche mit Walter und Elisabeth Schütte sowie mit Vera Pantenburg, Sozialarbeiterin im Jugendamt des Landkreises Oldenburg: Die Namen wurden auf Wunsch der Familie geändert.)