Von Yvonne Klabes, Sina Meyer, Imke Ohlrogge und Mareka Stolle
Schweißgebadet von der Anstrengung lehnt sich das Mädchen ans Waschbecken. Voller Angst denkt sie, dass ihre Eltern nach Hause kommen, bevor das Blut auf dem Boden weggewischt ist. Denn keiner darf wissen: Sie hat ein Kind bekommen.
In einer solchen oder ähnlichen Lage sind wohl etliche der 40 Mütter, die jährlich ihre Babys aussetzen. Von den Neugeborenen wird etwa die Hälfte tot aufgefunden. Damit die Säuglinge überleben können und vor Gesundheitsschäden bewahrt werden, bieten einige deutsche Großstädte "Babyklappen" an. Auch in Hannover gibt es im Krankenhaus Friederikenstift ein Babykörbchen. Das wurde auf Initiative von Dr. Margot Käßmann, Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, eingerichtet.
Die Einrichtung ist Teil des Hilfsnetzwerkes "Mirjam" für Frauen in ausweglosen Situationen. Wie uns die Landesbischöfin in einem Gespräche berichtet, geht der Name auf eine Geschichte im zweiten Buch Mose zurück: "Mirjam beschützt die Aussetzung ihres kleinen Bruders Moses und stellt einen Kontakt zwischen Adoptivmutter und realer Mutter her."
Aber wie ist es zu dieser Projektidee in der niedersächsischen Landeshauptstadt gekommen? "Ich finde, so verzweifelt darf in diesem Lande doch niemand sein, dass er sein Kind auf den Müll wirft oder irgendwo alleine lässt", sagt die Initiatorin. Der Beweggrund, das Babykörbchen aufzustellen, war, Müttern tatkräftig zur Seite zu stehen, die nicht mehr weiter wissen.
Ebenso ist das eingerichtete Notruftelefon ein Teil von "Mirjam" und soll allen Frauen helfen. 24 Stunden am Tag wird die kostenlose Nummer 0800 / 6 05 00 40 von Fachkräften betreut. Durch diese sowie die persönliche Schwangerschaftskonfliktberatung wird auf die Probleme der Einzelnen eingegangen. "Wir hatten schon fünf Fälle, in denen wir die Frauen überzeugen konnten, ihr Kind nicht anonym wegzugeben und sich stattdessen für eine offene Adoption zu entscheiden." Und bei dieser Adoption haben leibliche Mütter und Kinder später die Möglichkeit, miteinander Kontakt aufzunehmen. "Das ist für alle das Beste", sagt Dr. Käßmann.
Um die schwere Entscheidung der Betroffenen besser verstehen zu können, ist es wichtig, zu wissen, in welch schwierigen Situationen sie oft hier leben müssen. Zum Teil sind es illegal in Deutschland lebende Frauen, die weder sozial- noch krankenversichert sind; sie haben meist keinen festen Wohnsitz. Auch manche junge Frauen aus ausländischen Familien können ihr Kind nicht behalten, weil sie nach Landesbrauch verstoßen werden, wenn sie unverheiratet ein Baby erwarten.
Entgegen den Vorurteilen vieler Menschen handelt es sich vorwiegend nicht um junge Mädchen, die sich gegen ihr Neugeborenes entscheiden - ganz im Gegenteil. "Jugendliche Mütter, die sich in einer Krise befinden, erhoffen sich durch das Kind Stabilität und Klarheit im Leben", sagt Dr. Käßmann. Tatsächlich sind es am häufigsten die Frauen, die schon mehrere Kinder haben und die mit einem dritten oder vierten nicht zurechtkommen würden. Oft fehlen ihnen auch die finanziellen Mittel, weil der Vater die Familie verlassen hat. "Kinder sind das größte Armutsrisiko in Deutschland", betont die Landesbischöfin.
Bei einer solch gravierenden Entscheidung - ihr Kind im Babykörbchen abzugeben - muss sich die Mutter wenigstens gewiss sein, für den Säugling wird das Bestmögliche. Wenn ein Baby in das Bettchen gelegt wird, werden die Schwestern des Friederikenstiftes durch ein Signal alarmiert, das durch einen Wärmesensor ausgelöst wird. Nach spätestens fünf Minuten wird ihr neuer Schützling in die Säuglingsstation gebracht. Dr. Käßmann: "Das Baby wird dort untersucht und von den Ärzten sein Alter möglichst genau festgestellt."
Die Landesbischöfin beschreibt den Fortgang des Verfahrens: "Mehrere adoptionswillige Familien wurden darauf vorbereitet, gegebenenfalls das Findelkind anzunehmen. Wir haben uns dazu entschlossen, das Kind nicht vorher in eine Pflegefamilie zu geben. Ich glaube, die erste Zeit ist so entscheidend, dass es wichtig ist, den Kontakt zu seinen neuen Eltern von Anfang an zu ermöglichen." Die leibliche Mutter hat acht Wochen Zeit, sich doch für ihr Kind zu entscheiden, auch wenn es schwer für die Adoptionsfamilie wäre, das Baby so schnell wieder zu verlieren. Doch woher kommt das Geld für dieses aufwändige Einrichtung?
Das Babykörbchen wird ausschließlich aus kirchlichen Mitteln und Spenden finanziert. Rund 133 000 Euro - die bislang größte Summe - hat allein die Installation gekostet. "Unterstützung bekommen wir unter anderem von den Klosterkammern und dem Verband junger Unternehmerinnen", erläutert unsere Gesprächspartnerin. Das Infomaterial herzustellen und weit zu streuen, ist ein weiterer Kostenfaktor. Dazu gehören Postkarten und Flyer, auf denen die Telefonnummer steht und der Weg zu "Mirjam" beschrieben wird.Ebenfalls auf Spendenbasis wurde eine Versicherung gefunden. Diese gewährleistet, dass kranke oder behinderte Kinder ausreichend versorgt werden können.
Doch es gibt auch Kritik an der Grundidee der Babyklappe. Eine weit verbreitete Meinung ist, es handle sich bei der Einrichtung nur um eine "Lösung für den Augenblick", weil sie die Identitätsprobleme im späteren Leben der Betroffenen nicht berücksichtige. Dass sich dies tatsächlich als Schwierigkeit erweist, zeigt sich bei den "unter X Geborenen" in Frankreich, die wegen der anonymen Geburt ihre Eltern nicht kennen (siehe auch STICHWORT).
Viele der betroffenen Menschen haben sich bei den Nachbarn in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. Sie kämpfen für das Recht, ihre Herkunft zu kennen, das auch im deutschen Grundgesetz abgesichert ist. Ein weiterer Streitpunkt ist die zweifelhafte Legalität der Babyklappe - denn Kindesaussetzung ist gesetzlich verboten. "Bei dem, was wir tun, handelt es sich nicht um eine strafbare Tat, sondern um eine Inobhutnahme", widerlegt die Bischöfin diesen Vorwurf. "Außerdem geht es um eine gutkirchliche Tradition, denn schon früher wurden ungewollte Kinder vor die Klostertüren gelegt und von den Nonnen oder Mönchen aufgenommen."
Auch die Befürchtung, dass die Mütter dazu verführt werden könnten, durch das Angebot des Babykörbchens ihr Kinder zu leichtfertig abgeben, ist laut geworden. Doch trotz der von vielen Seiten geäußerten Kritik hat die Landesbischöfin ihr eigentliches Ziel nicht aus den Augen verloren: für das Leben einzutreten.