Die Bevölkerungsentwicklung Deutschlands sowie der meisten anderen europäischen Staaten gibt Anlass zur Sorge. Die ZiSch-Reporter Jonas Hiltrop, Martin Stöver und Florian Wachsmann sprachen mit Dr. Heinz Rothgang, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an der Uni Bremen (Zentrum für Sozialpolitik). Rothgang beschäftigt sich unter anderem mit den Folgen der demografischen Entwicklung.
ZiSch: Herr Dr. Rothgang, was ist denn so besorgniserregend an der Bevölkerungsentwicklung hier in Deutschland?
Heinz Rothgang: Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist durch einen Prozess gekennzeichnet, den man Double-Aging nennt. Zum einen nimmt der Anteil der Älteren zu, und zum anderen liegt die Geburtenrate unterhalb dessen, was zur Bestandserhaltung notwendig ist.
Welche Maßnahmen könnten in Deutschland eine Trendwende einleiten?
Die Bevölkerungsentwicklung hängt ab von der Mortalität (Sterblichkeit), Fertilität (Fruchtbarkeit) und der Migration (Wanderung). Im erstgenannten Bereich gibt es das "Problem" der ständig steigenden Lebenserwartung in der Zukunft, woran sicherlich auch niemand etwas ändern will. In der Fertilität ist die Geburtenrate seit 30 Jahren auf einem Niveau, das nicht ausreicht, um den Bestand der Bevölkerung zu erhalten. Das könnte beeinflusst werden, indem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Ein Beispiel für wirkungsvolle Maßnahmen in anderen Ländern ist Frankreich mit deutlich höheren Geburtenzahlen, die nicht zuletzt auf die Ganztagsschule zurückzuführen sind. Denn sie trägt zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei. Zum letzten Punkt: Man könnte gezielt jüngere Immigranten "reinlassen" und somit das deutsche Durchschnittsalter senken, was aber auch nur ein kurzzeitiger Effekt wäre.
Kann ein Land wie Deutschland die Geburtenzahlen seiner Bürger beeinflussen?
Wir haben in Deutschland erst einmal Probleme damit, das überhaupt als Ziel zu formulieren, denn die Geburtenpolitik ist etwas, was in unserem Lande wegen der NS-Vergangenheit verrufen ist. Selbst wenn Geburtenpolitik betrieben würde, ist unklar, wo sie ansetzen sollte. Ein Punkt wäre die Kindergartenplatz-Garantie: Wir haben jetzt eine Garantie für Kinder ab drei Jahren, die aber durch die Stichtags-Regelung unterlaufen wird, so dass die Kinder erst einen Kindergartenplatz-Anspruch haben, wenn sie erheblich über drei sind; der Anspruch beschränkt sich auf vier Stunden täglich. In dem Zeitraum ist selbst das Ausüben eines Teilzeitjobs nicht möglich. Ein weiterer Punkt wäre der Ausbau von Ganztagsschulen. Ich meine, in diesem Bereich müsste etwas getan werden. Solche Maßnahmen haben jedoch nur langfristig gesehen eine Wirkung.
Halten Sie die Forderungen für berechtigt oder sinnvoll, Geburtenzahlen durch höheres Kindergeld und/oder die gesellschaftliche Aufwertung der Familie zu steigern?
Wenn wir über Familienleistungen reden, geht es nicht um den linearen Zusammenhang: Wir erhöhen das Kindergeld und im Ergebnis steigt die Kinderzahl. So funktioniert das nicht. Soll die Geburtenrate in Deutschland beeinflusst werden, wäre es effizienter, die Kinderbetreuung zu verbessern. Wenn wir normative Rechtfertigungen für Familienleistungen suchen, so gibt es zwei: Das eine ist das verteilungspolitische Argument: Familien tragen hohe Lasten. Haushalte mit gleicher Ausbildung und gleichen Arbeitsmarktchancen, jedoch ohne Kinder haben ein deutlich höheres verfügbares Einkommen. Kindererziehung ist sehr teuer; sie wird überwiegend privat finanziert. Das kann als sozial ungerecht angesehen werden. Daraus ließe sich die Forderung nach einer Entlastung der Familien ableiten. Zum anderen würden wir ökonomisch über die Figur der externen Effekte argumentieren, indem wir sagen, Kinder produzieren einen Nutzen für die Gesellschaft, von dem auch die profitieren, die selbst keinen Nachwuchs haben. Wird der Zusatznutzen den (potenziellen) Eltern nicht angemessen zugeschrieben, werden sie ihn bei ihren Reproduktionsentscheidungen nicht berücksichtigen. Es kommt im ökonomischen Modell zu einer "Unterreproduktion", das heißt, die Kinderzahl ist zu niedrig. Aus dieser Denkfigur der externen Effekte könnte abgeleitet werden, dass Familien gefördert werden sollen, weil die Erziehungsleistung der Familien der Gesamtgesellschaft zugute kommt und die sich finanziell angemessen beteiligen soll. Diese Begründung der Familienleistungen halte ich für stichhaltiger als die Hoffnung, damit die Kinderzahl tatsächlich kurzfristig steigern zu können.
Lässt sich das Problem der Überalterung der deutschen Bevölkerung durch Zuwanderung beheben oder zumindest lindern?
Lindern: ja, völlig aufhalten: nein ! Die Zuwanderer sind von der Altersstruktur her anders, sie sind in der Regel jünger. Und wir müssen davon ausgehen, dass sie nicht zurückwandern und nur temporär hier sind. Das bedeutet eine massive Zuwanderung von jungen Leuten in den kommenden zehn Jahren und ein Anstieg der alten Bevölkerung in den nächsten 30 bis 40 Jahren. Dem ist nur entgegenzuwirken, indem in den folgenden Jahrzehnten immer noch mehr Zuwanderer kommen. Herwig Birg, ein Bevölkerungsforscher aus Bielefeld, hat das ausgerechnet, welche Zuwanderungszahlen wir brauchten, um die Alterstruktur konstant zu halten. Das ergibt aberwitzige Zuwanderungszahlen im Bereich von 180 bis 190 Millionen Personen. Allein durch Zuwanderung lässt sich der Altenquotient nicht stabilisieren und eine solche Maßnahme allein kann eben nicht die Alterung verhindern.
Herr Dr. Rothgang, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
(Siehe auch "Wende nicht in Sicht")